Zwischen politischem Druck, der Gefahr medialer Überinterpretation einzelner Studien, wissenschaftlichem Replikationsunvermögen, und teils prekären Arbeitsbedingungen – es gilt, Wissenschaft weiter- und neuzudenken!
Wer einsteigen will, macht Forschung zu Beginn meist unbezahlt und nicht selten ohne eine strukturierte Einführung oder engmaschig Begleitung – Orientierung bietet nur der kritisierte Status Quo.
Eine gewinn- und gewinnerorientierte Publikationsindustrie produziert jedes Jahr eine zunehmende Zahl an Artikeln, von denen nur ein Bruchteil gelesen wird. Einige befürchten sogar, dass ein Großteil der publizierten Ergebnisse falsch ist (Ioannidis, 2005). Wo der akademische Aufstieg oder die Festanstellung von Publikationen und Positivergebnissen abhängig sind, werden junge Forschende zu unfreiwilligen Spielbällen eines hinkenden Systems. Am Ende sind alle zufrieden und das System hat einmal mehr gewonnen?! Studierende haben den Doktortitel, Arbeitsgruppenleiter*innen mehr Verhandlungsgrundlage für das Einwerben von Forschungsmitteln, etablierte Journale höhere Gewinne und die (Wissenschafts-)Welt mehr vermeintliche Evidenz (wenn sie darauf zugreifen kann). – Eine kurze Geschichte der Wissenschaft!
Studierende sind die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftsnutzerinnen von morgen und können mit ihrem studentischen Idealismus Grenzen und Realitäten verschieben. Sie haben den Freiraum und die gedankliche Flexibilität, kreativ, kritisch und vor allem anders zu denken und Ideen auszuprobieren, die im kompetitiven Wissenschaftssystem kaum Platz finden. Wer aus eigener Erfahrung weiß, dass Wissenschaft anders sein kann und sollte, wird den wissenschaftlichen Erkenntnisprozess von Beginn an mit anderen Augen sehen und ein eigenes kritisches Wissenschaftsideal entwickeln.
Mit dem Student Network for Open Science (NOS), dem ersten studentisch kuratierten Open Science Journal, Aus- und Weiterbildungsnetzwerk und studentischen Think Tank in den Lebens- und Gesundheitswissenschaften, bauen wir genau dafür die Infrastruktur. Dabei ist NOS auf vier Eben aktiv, um nachhaltig zu einer transparenteren, faireren, inklusiveren und damit besseren Wissenschaft von morgen beizutragen:
1. Gut begleitete und kritische Publikations- und Reviewerfahrungen für Studierende
Wir wollen die Black Box rund um das wissenschaftliche Publizieren und das Peer-Review für Studierende öffnen! Wir sind überzeugt, dass erste Publikationserfahrungen gut begleitet und ohne Druck bereits frühzeitig im Studium gemacht werden sollten und strukturiertes Feedback durch Peers integraler Bestandteil des Einstiegs in die Wissenschaft sein sollte. Durch unsere Publikationsinfrastruktur wollen wir einen neuen Zugang zu Wissenschaft schaffen: Der erste Eindruck von Wissenschaft sollte kein unfaires, monetarisiertes Gegeneinander beeinflusst durch die Reichweite und Bekanntheit der jeweiligen Heimatinstitution sein. Und der erste Eindruck sollte nicht sein, dass in der Angst um die eigene wissenschaftliche Existenz Signifikanzen gefunden werden, wo keine sind, nur damit publiziert werden kann. In unserem Verständnis ist Publizieren ein Miteinander von Autorinnen, Journal und Reviewerinnen im Streben nach sauberer, reproduzierbarer und reflektierter wissenschaftlicher Erkenntnis.
Daher verbinden wir in unserem Journal Open Science-Grundsätze und innovative Elemente des Peer-Reviews mit einer engmaschigen Begleitung der studentischen Autor*innen durch unser Editorial Team. Wir schaffen niederschwellige, facettenreiche Publikationsmöglichkeiten und ermutigen interessierte Studierende zur Präregistrierung (Preregistration), um ihre Forschungsideen bereits frühzeitig einem kritischen Review auszusetzen.
Hinter unseren Review-Strukturen steht ein neues Verständnis des Peer-Reviews: Um die wissenschaftliche Diskussion eines Artikels so früh wie möglich für alle zu öffnen, veröffentlichen wir eingereichte Arbeiten direkt als Preprint. Im Rahmen eines sog. Open Peer-Reviews stellen wir die Entwicklung eines Artikels im Zuge des Reviewprozesses transparent dar, die ausgebildeten, studentischen Gutachter*innen werden namentlich erwähnt und wir ermöglichen das zeitlich unbegrenzte Feedback durch alle Mitglieder der Wissenschaftscommunity auf unserer Website (Public-Review).
2. Ausbildung Studierender im kritischen Lesen und Bewerten wissenschaftlicher Publikationen
Peer-Review ist neben dem Publizieren eine der wichtigsten Aufgaben Forschender, rückt aber aufgrund fehlender Wertschätzung und Zeitnot häufig in den Hintergrund, hat ein hohes Bias-Potential und wird den interdisziplinären Herausforderungen unserer Zeit nur unzureichend gerecht. Grundsätze von Scientific Literacy, Open Science und Peer-Review werden bislang selten strukturiert gelehrt, sodass viele junge Forschende kaum auf diese verantwortungsvolle Aufgabe vorbereitet sind. Mit unserem breiten Aus- und Weiterbildungsangebot setzen wir genau hier an. Wir vermitteln Studierenden das Handwerkszeug, um wissenschaftliche Artikel strukturiert zu bewerten, konstruktives und faires Feedback zu formulieren und über NOS hinaus gute wissenschaftliche Praxis einzufordern. Durch unsere Kursangebote können die studentischen Reviewenden von Beginn hands-on trainieren, damit “Wissenschaft von der anderen Seite” kennenlernen und aktiv in den Wissenschaftsdiskurs eintauchen.
3. Förderung der kritischen Reflektion unseres Wissenschaftssystems
Studierende haben wertvolle Ideen! – Und das gilt nicht nur für ihre eigene Forschung oder das Reviewen.
Im Gründungsprozess durften wir immer wieder erleben, wie wertvoll die Impulse Studierender für das bestehende Publikationssystem sind. Von digitalen Lösungen, um Peer-Review effizienter und transparenter zu gestalten, über die Integration der Forschung in die curriculare Lehre, bis hin zu Open Science: Idealismus und die Motivation, etwas zu verändern, bewegen Studierende dazu, bestehende Strukturen zu hinterfragen. Wir geben ihnen die grundlegenden Kenntnisse und Fähigkeiten dazu und schaffen mit unserem eigenen studentischen Think Tank, einen Experimentierraum, um das das wissenschaftliche Publikationssystem auf einer Metaebene zu reflektieren, zu diskutieren und zu verbessern. Dadurch evaluieren und verbessern wir die Strukturen unseres Journals kontinuierlich, während Studierende gleichzeitig aktiv die Wissenschaft aus einer Metaebene kennenlernen und bottom-up mitformen können.
4. Interdisziplinäre Lösungen für komplexe Herausforderungen
Wir leben in einer Zeit, in der Herausforderungen nicht mehr in Silos zu lösen sind, sondern vernetztes, disziplinübergreifendes Denken und Forschen erfordern. NOS ist Gründungsmitglied von Berlin Exchange, einer Plattform für studentische Journale verschiedener Disziplinen. Wir teilen nicht nur Ressourcen und Expertise, sondern widmen uns auch gemeinsam der Frage, wie wir Interdisziplinarität im Publizieren, im Peer-Review und in der Kommunikation von Wissenschaft gestalten und nutzen können. All das hilft am Ende nicht nur den Studierenden und der Wissenschaftsgemeinschaft, sondern denkt die Gesellschaft mit! Um tatsächlich auf Basis gesicherter wissenschaftlicher Erkenntnisse, also „evidenzbasiert“, handeln, therapieren, beraten oder informieren zu können, müssen werdende Expert*innen Evidenz kritisch bewerten, einordnen und für Laien verständlich erklären können! Das sind zentrale Schritte, damit wieder faktenbasierter diskutiert und entschieden werden kann und Gesellschaft und Wissenschaft wieder näher zueinanderfinden. Lasst uns gemeinsam, generations- und disziplinübergreifend das wissenschaftliche Publikationssystem mit kleinen Schritten, bottom-up transparenter, inklusiver, fairer und dadurch belastbarer, objektiver und effizienter gestalten.
Let’s engage students in research!